Langlebigkeit: Wie wirkt sich ein längeres Leben auf die Psyche aus?

Langlebigkeit: Wie wirkt sich ein längeres Leben auf die Psyche aus?

Wir bei nextvisions sind der Meinung, dass ein längeres Leben für den Menschen auf jeden Fall erstrebenswert ist. Wir haben mehr Zeit, können mehr erleben und die Zeit mit unseren Mitmenschen genießen.

Wir sagen das aus der Perspektive von jüngeren Menschen, die noch ihr halbes Leben vor sich haben. Was wir uns fragen: Würden Menschen im hohen Alter uns zustimmen, dass ein längeres Leben von 120 oder 200 Jahren schön ist?
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Schauen wir uns die ältere Generation heute an, geraten wir mit unseren Überlegungen ins Stocken. Vielleicht geht es Dir ja auch so – wir kennen viele ältere Menschen, die nicht mehr so wirklich Lust auf das Leben haben. Die einsam sind und einfach nicht mehr wollen.

Würden wir uns dennoch einen Gefallen tun, wenn wir deutlich länger leben als heute? Und wie würde das unsere Psyche verändern? Kämen wir damit überhaupt klar?

Verändert sich die Psyche im Alter?


Um diese Fragen zu beantworten, werfen wir zunächst einen Blick auf die Forschung. Man ist sich einig, dass sich die Psyche der Menschen im Alter verändert. Ab dem 60. Lebensjahr macht sich dies bemerkbar.

Experten fanden heraus, dass sich unser Gefühlshaushalt auf drei Arten verändert. Zunächst lässt sich bei vielen älteren Menschen beobachten, dass die emotionalen Ausschläge kleiner werden. Extreme Freude oder absolute Betrübtheit werden nur selten empfunden.

Gleichzeitig verstärken sich im Alter die Charaktereigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale. So kann es sein, dass sture Menschen im Alter noch sturer werden oder Pessimisten alles noch negativer sehen als zuvor.

Der dritte Punkt, den Forscher ab dem 60. Lebensjahr beobachten konnten, ist die Verstärkung von introvertiertem Verhalten. Wer sein ganzes Leben lang zurückgezogen gelebt und sich abgeschirmt hat, tut dies im Alter zunehmend. Währenddessen geht extrovertiertes Verhalten zurück, sodass nur wenig ältere Menschen aus sich herausgehen und offen sind.

Das sind die Dinge, die Forscher bei unserer heutigen älteren Generation beobachten. Aber gilt dies auch, wenn wir nicht mehr nur 80 oder 90 Jahre alt werden, sondern 200? Ich finde es ehrlich gesagt ziemlich spannend, mir Gedanken darüber zu machen.

Denn wer weiß, was noch kommt: Vielleicht durchleben wir ab dem 130. Lebensjahr eine komplette Charakterveränderung und werden ein ganz neuer Mensch. Hier fehlen bislang einfach die Erfahrungswerte. Ich persönlich kann mir gut vorstellen, dass es Auswirkungen auf unseren Charakter hätte, wenn wir auf einmal doppelt so viel Zeit hätten.

Wieso ein längeres Leben mit großen psychischen Herausforderungen verbunden ist


Bei all meiner Begeisterung fürchte ich aber auch, dass ein längeres Leben mit vielen zusätzlichen Belastungen für die Psyche verbunden sein wird. Ich bin der Meinung, dass in einem 200-jährigen Leben einfach viel mehr Schlimmes passieren kann als in „nur“ 80 Jahren.

Und wie man das alles verkraften soll, weiß ich bislang noch nicht. Deshalb mache ich mir Gedanken über einige der Herausforderungen, die ein langes Leben für uns bereithält.

Umgang mit dem Tod von Verwandten und Freunden


Wenn ich mir vorstelle, 200 Jahre zu leben, kommt mir ziemlich schnell das Thema Verlust in den Kopf. Eigentlich ein paradoxer Gedanken, denn mit einem langen Leben gewinnen wir ja einiges an Zeit.

Das birgt für mich aber auch die Gefahr, dass man mit dem Tod von vielen geliebten Menschen umgehen muss. Was mich zuversichtlich stimmt: Wenn ich selber 200 Jahre alt werde, dann gilt das auch für andere Menschen. Ist die Medizin irgendwann so weit, Krankheiten wie Krebs und Parkinson zu heilen, leben alle Menschen länger.

Aber was ist mit denen, die doch sterben? Die vielleicht bei einem Unfall ums Leben kommen, Suizid begehen oder einer Straftat zum Opfer fallen? Das wird sich nicht völlig ausschließen lassen.

Viele Menschen sehen sich mit solchen Tragödien konfrontiert. Und aus persönlicher Erfahrung weiß ich, dass es ein ganzes Leben lang schwer bleibt, damit umzugehen und zu leben.

Stell Dir nun vor, Du wirst 200. In diesem Zeitraum spielen sich im schlimmsten Fall viel mehr Tragödien ab. Dann ist es nicht der eine Freund, den du betrauerst, sondern vielleicht zwei oder drei. Möglicherweise sterben gleich mehrere Angehörige bei Unfällen.

Und ich glaube, diese Belastung wäre irgendwann zu viel für die Psyche.

Miterleben von Katastrophen auf der Welt


Neben solchen persönlichen Erlebnissen kommen auch noch die Geschehnisse auf der Welt hinzu. Ich will nicht negativ klingen und Dir die Langlebigkeit schlecht reden. Ich denke aber, dass wir alle realistisch an das Thema herangehen sollten. Viele Menschen sind ihr ganzes Leben traumatisiert davon, dass sie einen Krieg miterlebt haben.

Zeitzeugen, die sowohl den ersten als auch den zweiten Weltkrieg miterlebt haben, berichteten ausführlich, dass diese fürchterlichen Erinnerungen sie ihr ganzes Leben lang begleiten. Ein langes Leben birgt natürlich auch die Gefahr, dass man Zeuge von vielen Kriegen und Katastrophen wird.

Als junger Mensch kann ich mir persönlich nicht vorstellen, wie das für die Psyche sein muss. Ich kenne es aber von meinen Großeltern: Auch Jahrzehnte nach dem Krieg fangen sie immer wieder an, die Geschichten von früher zu erzählen. Es lässt sie einfach nicht los.

Leben wir länger, müssen wir lernen, mit diesen Erinnerungen fertig zu werden.

Konfrontation mit harten persönlichen Herausforderungen


Die Frage ist für mich auch, wie wir persönlich damit klarkommen würden, 200 Jahre oder älter zu werden. Schon heute haben viele Menschen Probleme damit „alt“ zu werden und ihre Jugend zu verlieren. Sie versuchen krampfhaft, jung zu bleiben und nicht zu der alten Generation gehören zu müssen.

Ich finde die Überlegung interessant, wie sich das verhalten würde, wenn wir viel älter werden. Würden 100-Jährige dann noch zu Tanzkursen gehen, bunte Kleidung tragen und das Wochenende auf der Tanzfläche verbringen, um nicht als „alt“ zu gelten? Oder würde der Mensch irgendwann lernen, dass das Altern zum Leben einfach dazugehört?

Hinzu kommt, dass viele ältere Menschen nicht mehr alleine leben können und in ein Heim umziehen müssen. Schon jetzt ist unser Gesundheitssystem ausgelastet. Sind wir mal ehrlich: Die Menschen werden schon heute zu alt. Die Rente reicht schon lange nicht mehr und die Pflegeheime sind nicht nur voll, sondern auch noch teuer.

Wie soll das weitergehen? Ich selber habe schon jetzt damit zu kämpfen, wie das werden soll, wenn ich nicht mehr alleine leben kann. Auch, wenn bis dahin (hoffentlich) noch 50 Jahre vergehen, frage ich mich, wie das bezahlt werden soll und ob es überhaupt Platz für mich geben wird.

Zunehmende Vereinsamung


Ein wichtiger Aspekt, der mich schon länger beschäftigt, ist die Einsamkeit im Alter. Ich finde es herzzerreißend, wie die Menschen leiden, wenn ihr Partner, mit dem sie ihr ganzes Leben verbracht haben, plötzlich stirbt. Sie haben dann nicht nur den Tod des geliebten Partners zu verkraften, sondern müssen auch ihren Alltag neu gestalten und alleine absolvieren.

Und damit gehen die Probleme dann erst richtig los. Ich frage mich, wie das sein würde, wenn ein Mensch mit 90 Jahren bei einem Unfall stirbt und der Partner noch über 100 Jahre ohne ihn verbringt. Würde das zu einer noch größeren Abkapselung führen? Oder trifft hier der Fall zu, dass die Zeit alle Wunden heilt?

Ich finde, dass wir uns über diesen Punkt rechtzeitig Gedanken machen sollten. Viele Menschen sind im Alter allein. Weder ihre Familie noch Freunde kümmern sich. Schon jetzt halte ich das für ein großes Problem. Wenn wir älter werden, ist das meiner Meinung nach noch wichtiger.

Denn was bringt mir ein langes Leben, wenn niemand da ist, mit dem ich es verbringe? Wenn ich mir jeden Tag wünsche, dass meine Kinder mich besuchen, sie es aber einfach nicht tun? Genau das ist der Grund dafür, dass so viele alte Menschen an Depressionen leiden.

Wenn der Körper im Alter nicht mehr so richtig mitmacht und dann noch Einsamkeit hinzu kommt, verlieren viele Menschen die Lust am Leben. Genau das sollten wir nach Kräften verhindern. Ich finde, dass geht am besten gemeinsam.

Könnten wir es psychisch also gar nicht verkraften, länger zu leben?


Du fragst Dich jetzt vielleicht, ob es für uns überhaupt Vorteile hätte, 200 Jahre und älter zu werden. Einige der genannten Punkte sind schwierig für unsere Psyche. Je eher man Gefahren erkennt, desto früher kann man etwas dagegen unternehmen. Wir wissen schon jetzt, dass Einsamkeit im Alter eine große Rolle spielt.

Wieso fangen wir dann nicht genau jetzt damit an, etwas daran zu ändern? Die Forschung hierzu sollte weiter voranschreiten. Beschäftigen wir uns mit der Langlebigkeit, sollte die Psyche auch immer ein Thema sein. Denn nur mit einer gesunden psychischen Verfassung können wir unser langes Leben auch genießen.